Skip to main content

Vertrauen ist ansteckend

Warum immer mehr Menschen die Süddeutsche Zeitung lesen.

Von Judith Wittwer

Im helvetischen Schatz an Wörtern und Wendungen auf Vorrat gibt es einen leicht verstaubten, aber kraftvollen Begriff, der die innige Beziehung eines Lesers (m/w/d) zu seiner Zeitung beschreibt. „Leibblatt“ heißt er. Die hübsche Wortschöpfung drückt eine fast körperliche Nähe zwischen Mensch und Medium aus; sie formuliert, was eine Zeitung, zumal eine vom journalistischen Anspruch einer Süddeutschen, von einem Laufschuh oder einem ETF-Sparplan unterscheidet: Ein Leib­blatt ist kein schnelllebiges Massenprodukt der Multioptionsgesellschaft. Eine Zeitung ist eine kulturelle Institution. Im besten Fall bietet sie dem Abonnenten ein Stück Heimat, die tägliche Lektüre wird zu einem liebgewonnenen Ritual und die Zeitung zu einer Wegbegleiterin, der man auch (oder noch viel stärker) in unruhigen Zeiten vertraut.

Die Zeiten sind unruhig. Die Pandemie, der Krieg in Europa, die inflationären Preise für Energie und Lebensmittel, der Klimawandel: Es gibt gerade unzählige Gründe, besorgt und verunsichert zu sein. Die multiplen Krisen ziehen alte Gewissheiten in Zweifel und werfen neue Fragen auf. Das Bedürfnis von immer mehr Menschen nach verlässlichen Informationen und Hintergründen wächst.

Leibblätter bieten Orientierung in einer unübersichtlichen Welt. Sie helfen, die vielen Veränderungen und Umbrüche zu verstehen, und eröffnen neue Perspektiven. Glaubwürdig sind die Medien aber nur dann, wenn sie unabhängig sind und nach professionellen Standards handeln: Einwand­freie Fakten, sorgfältige Recherchen und das Streben nach Transparenz und Wahrheit sind die wichtigs­ten Kennzeichen eines Reporters. Damit unterscheidet sich seine Arbeit von Augenzeugen­berichten in einem Krieg oder emotionalen De­batten in den sozialen Netzwerken. Dieses Handwerk macht den Journalismus so wertvoll für den gesellschaftspolitischen Diskurs und die liberale Demokratie.

Im Zeitalter von Fake News und „alternativen Fakten“ schaffen Medien Vertrauen, indem sie Behauptungen und Quellen überprüfen und selbst unvoreingenommen nach Antworten suchen. Die Süddeutsche hat mit ihren investigativen Recherchen immer wieder Relevantes und teils gar Brillantes zutage gefördert. Ihre Korrespondenten berichten kenntnisreich und authentisch aus Bayern, Deutschland und der ganzen Welt. Die SZ unterhält eines der größten Korrespondentennetze in Europa und darüber hinaus. Ihre Reporter fahren auch in die zerstörten ukrainischen Städte, sie reden mit Soldaten und Bewohnern und machen sich ihr eigenes Bild. Bei aller Brutalität des russischen Überfalls auf die Ukraine bleibt das Bemühen um Objektivität und Distanz auch zu all jenen wichtig, die in diesem Krieg Schreckliches erlebt haben. So entsteht Glaubwürdigkeit. 

Vertrauen, dieser geniale „Mechanismus zur Reduktion von Komplexität“, ist aber immer auch eine „riskante Vorleistung“, wie der Soziologe Niklas Luhmann schrieb. Nicht alles lässt sich ausrecherchieren und verifizieren. Wo die Gewissheit fehlt, kommt das Vertrauen ins Spiel. Leibblätter gaukeln ihren Lesern nichts vor. Sie räumen Fehler ein und legen offen, wenn sie etwas nicht wissen. Corona zum Beispiel bedeutete zu Beginn der Pandemie vor allem Unsicherheit. Welche Einschränkungen sind nötig? Was hilft? Reflektierter Journalismus stellt selbst dann Fragen, wenn sie nicht auf die Schnelle beantwortet werden können; er ist auch bereit zur Selbstreflexion. Zu Vertrauen gehört Ehrlichkeit – und Ehrlichkeit zahlt sich auch für die Medien aus.

Die Süddeutsche Zeitung konnte ihre Abonnenten seit Ausbruch von Pandemie und Krieg nicht nur halten. Sie hat auch viele neue, vor allem digitale Nutzer hinzugewonnen. Inzwischen zählt die SZ mehr als 250.000 Digital-Abonnenten, zusammen mit der Zeitung hat sie so viele Leser wie nie zuvor.

Jedes schnellere Gefährt mache das langsame überflüssig, sagt der Philosoph Paul Virilio. Für die SZ gilt eher das Rieplsche Gesetz, wonach das Online-Angebot die Zeitung ergänzt und nie komplett verdrängen wird. Besonders am Wochen­ende lesen viele Menschen ihre SZ noch immer am liebsten auf Papier. Weil auf die Hektik des Alltags die Muße, auf Tempo die Entschleunigung folgt. Die Süddeutsche bietet beides: die schnelle Nachricht und den aufwendig recherchierten Hintergrund. Zur Aktualität gesellt sich die Exklusivität, zur großen Reportage der klare Kommentar. Unverwechselbar ist die SZ aber dank ihrer Autoren. Mit ihrem besonderen Stil, ihrer manchmal ironischen Blickweise und ihrer Lust an der Sprache geben sie der Süddeutschen ihren ganz eigenen Ton. Der bleibt im Gedächtnis. Dieser Sound macht die Süddeutsche Zeitung für immer mehr Menschen zum Leibblatt.

Vertrauen ist ansteckend.

Seit Sommer 2020 führt sie gemein­sam mit Wolfgang Krach die Redaktion der Süddeutschen Zeitung. Zuvor war die gebürtige Schweizerin Chefredak­teurin des Tages-Anzeigers in Zürich.