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Vertraute Freundin

Leser haben oft ein enges Verhältnis zu ihrer Zeitung. Es hält sogar Änderungen am Layout aus. Nicht aber Zweifel an der Glaubwürdigkeit.

Von Berthold Kohler

Als die F.A.Z. einmal sehr sichtbar ihr Layout auffrischte, beantwortete auch ich Fragen der Abonnenten, die uns über eine eigens eingerichtete Hotline anriefen. Nach zwei Dutzend Gesprächen dachte ich: Was haben wir nur getan? Denn Lob gab es für die Reform, an der wir lange gearbeitet hatten, keines – aber reichlich Schelte, was wir uns da denn erlaubt hätten: die Zeitung zu ändern, ohne die Leser um Erlaubnis gebeten zu haben!

Keiner wollte die Überschriften nach links gerückt sehen, die meisten vermissten die Linien zwischen den Spalten, und eine ältere Dame beklagte, dass es nun mehr Weißraum im Blatt gebe – sie zahle doch nicht für unbedrucktes Papier. Da half auch mein Hinweis auf sich ändernde Ansprüche an eine Zeitung und die Lesegewohnheiten der jüngeren Generationen nicht.

Der Tadel der Leserin war nicht untypisch für die Schicht der Leser, die ihre Zeitung schon lange lesen. Je länger sie das tun, desto weniger wünschen sie gewöhnlich, dass sich am Blatt etwas ändert. Die Zeitung ist ihnen zu einer vertrauten Freundin geworden, die sie an jedem Werktag zum Frühstück besucht und berichtet, was in der Welt los ist. Dazu bietet sie Erklärungen an und Meinungen. Nicht wild durcheinander, sondern so geordnet und systematisch, wie man das eben gewohnt ist. Weshalb, so fragte damals die Dame am Telefon, muss sie sich dafür denn anders schminken?

Selbstverständlich sind die Zeitung und ihre Leser auch nicht immer einer Meinung, wenn es um die Inhalte geht. Das gilt nicht einmal für die Redaktion selbst. Manchmal sind Abonnenten aber über etwas so entrüstet, dass sie der Zeitung schreiben, sie solle sich zum Teufel scheren. Doch wenn man mit ihr zusammen schon viele Höhen und Tiefen überstanden hat, dann kommt es nicht allzu oft zur Trennung von Tisch und Bett. Und manchmal wird die Kündigung sogar zurückgenommen. Denn auch im Fall einer Zeitung merkt man oft erst, was man an ihr hat, wenn man sie nicht mehr hat.

Bestand hat auch diese enge Beziehung aber nur, wenn die Leser davon überzeugt sind, der Zeitung – und damit sind alle ihre Erscheinungsformen gemeint, ob gedruckt oder digital – vertrauen zu können: dass sie keine Märchen erzählt, nicht auf Empörungswellen mitreitet und keine versteckte Agenda verfolgt, sondern nach bestem Wissen und Gewissen berichtet, kuratiert und kommentiert. 

Zeitungsredaktionen wissen, dass ihre Glaubwürdigkeit ihr größtes Kapital ist. Man bekommt das Vertrauen der Leser und User nicht geschenkt, sondern muss es sich Tag für Tag und Jahr für Jahr erarbeiten. Doch es ist schnell und leicht verspielt, wahrscheinlich sogar schneller und leichter als früher. Die Bereitschaft, einfach zu glauben, was in der Zeitung oder im Internet steht, hat abgenommen. Verantwortung für den Glaubwürdigkeitsverlust tragen an erster Stelle Journalisten und Medienhäuser, die sich nicht (mehr) an die Grund­regeln des unabhängigen Journalismus halten. Noch stärker zugenommen haben aber die Ver­suche, ordentlich arbeitende Redaktionen und ihre Publikationen zu diskreditieren. Im Kampf um die öffentliche Meinung ist vielen Akteuren im In- und Ausland inzwischen jedes Mittel recht. Mit der Wahrheit, für die sie angeblich eintreten, nehmen es jene, die „Lügenpresse“ oder „fake news media“ schreien, meistens selbst nicht so genau.

Das muss alle, die sich dem Qualitätsjournalismus verschrieben haben, erst recht dazu anspornen, so genau wie nur irgend möglich zu berichten und in kritischer Distanz zu den Akteuren und Ereignissen, über die man schreibt, den Dingen auf den Grund zu gehen. Vertrauensselig dürfen Journalisten nicht sein. Sie erwerben sich das Vertrauen ihrer Leser damit, dass sie misstrauisch sind. Enttäuscht eine Zeitung ihre Leser inhaltlich nicht, dann kann sie es sich auch erlauben, ihre Aufmachung zu ändern. Die eingangs erwähnte Abonnentin hat sich, das ergab ein Anruf bei ihr ein paar Wochen später, an das neue Äußere ihrer alten Freundin gewöhnt: Am Ende komme es ja auf die inneren Werte an. Da waren wir dann wieder einer Meinung.

Berthold Kohler

Seit 1999 Herausgeber der F.A.Z. Zuvor Korrespondent in Prag und Wien für mittel- und südosteuropäische Länder.