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Freiheit heißt, verantwortungs­bewusst zu handeln

Die Frankfurter Allgemeine wurde 1949 gegründet mit dem Anspruch, für die Freiheit einzustehen. Das ist heute genauso aktuell wie damals.

Von Thomas Lindner

Nehmen wir kurz an, Sie seien Anwalt in den USA. Plötzlich bekommen Sie einen Fall auf den Tisch, für den Sie kaum Zeit haben. Schnell Präzedenzfälle raussuchen? Beurteilen? Strategien entwickeln? Und das alles noch zusammenschreiben? Kein Problem – dank künstlicher Intelligenz. Seit Anfang des Jahres ist ChatGPT in aller Munde: Einfach Aufgabenstellung eingeben, zack, der Lö­sungs­text wird ausgespuckt. So könnte man das Prozedere (stark vereinfacht) beschreiben. Die Lösung! – dachte sich ein Anwaltsteam in New York. Wofür Menschen Tage und Wochen brauchen, kann die Maschine binnen weniger Minuten erstellen. Der Richter, dem dieses Werk vorgelegt wurde, war not amused. Er verurteilte die beiden Juristen zu einer Geldstrafe von 5.000 US-Dollar. Denn die Maschine hatte sechs Fälle samt Urteilen schlicht erfunden. Und die Anwälte hatten behauptet, diese Fälle und Urteile seien real.

Ist das die Zukunft – ist das relevant für die Medien­welt? Ja, denn dieser Fall beschreibt die Wandlungen, die auf uns zukommen. Und sie kolli­dieren mit der Maxime, die die F.A.Z.-Gründer vor bald 75 Jahren ausgegeben haben: Die Wahrheit der Tatsachen ist heilig.

Während das Internet verschiedene Auslegungs­möglichkeiten der Wahrheit brachte, kann man jetzt mit Künstlicher Intelligenz Wahrheiten fälschen. Das stellt die Medienwelt erneut vor eine große Veränderung – und Herausforderung. Mani­pulatoren können die Wahrheit einspeisen, die ihnen besser passt. Denn die Maschine schreibt – und antwortet – nach Wahrscheinlichkeiten: Jener Buchstabe, jenes Wort wird aneinandergereiht, das wahrscheinlicher zu sein scheint. Nicht sinnhafter. Die Maschine kennt keine Geschichte, keine Erfahrungen. Keine Wahrheit. Nur Vektoren und Statistik.

Man könnte das Freiheit nennen – doch es ist keines­falls die Freiheit, die im Grundgesetz verbrieft ist. Diese ist eine werteorientierte Freiheit in der Gesellschaft, eine Freiheit mit Leitplanken. Eine Freiheit, die auf allgemeingültigen Erfahrungen – und Warnungen – von Menschen beruht. Im Gründerstammbuch von 1949 heißt es: „Die Frankfurter Allgemeine wurde gegründet, um für Freiheit einzustehen – für die einzelnen Menschen wie für unser Land“. Mehr denn je gilt diese Selbstverpflichtung für uns.

Als Presseorgane sind wir verpflichtet, diese Freiheit zu wahren. Auf diesem Auftrag beruht die herausgehobene Position, die wir im Grundgesetz haben. Der Parlamentarische Rat hat 1949 in Artikel 5 formuliert: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu ver­breiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“. Diesen Geist, die Hinwendung zur Gesellschaft, atmet auch die F.A.Z., die ein Jahr später entstand.

Es ist unser Auftrag, diese allgemein zugäng­lichen Quellen bereitzustellen. Implizit: vertrauens­würdige Quellen. Wir sind ein Qualitätsmedium, wir handeln verantwortungsbewusst. Dazu gehört auch Innovation, die sich nicht auf Ausspielwege beschränkt – sondern auch auf Debatten.

Wir replizieren nicht, sondern spiegeln die Gesellschaft. Mit ihren Interessen und ihren Schwächen. Dazu stehen wir in ständiger Verbindung mit unserer wichtigsten Zielgruppe, der modernen bürgerlichen Mitte. Wir führen jene Diskussionen, die die Gesellschaft prägen. Und informieren sie gleichzeitig. Das ist unser Auftrag. Dazu braucht es den Kompass der Wahrheit. Gerade Qualitätsmedien wie wir können jene Debatten führen, die heikel sind, weil wir uns unserer Verantwortung bewusst sind – und uns nicht in Echokammern einschließen lassen. Dazu unternehmen wir immer wieder neue Anläufe, um auf innovative Weise unser Publikum zu erreichen – sei es über die tradi­tionellen Kanäle, über Sonderveröffentlich­ungen, über soziale Medien oder andere Ausspielwege wie spannende Podcasts.

Diese Leitlinien, die der Gesellschaft, die der Verantwortung entspringen, bestimmen unser unternehmerisches Handeln. Wir haben die Freiheit, eben nicht absurde Renditen erzielen zu müssen, sondern können es uns – im wahrsten Sinne des Wortes – leisten, unsere Ziele mit denen der Gesellschaft zu verknüpfen. Und uns daran messen zu lassen.

Thomas Lindner

Seit Januar 2014 Vorsitzender der Geschäftsführung der Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH.