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Gut gemeint

Was wertvolle Meinungsbeiträge in Zeitungen und auf Nachrichtenportalen ausmacht – und was sie ausrichten können.

Von Laura Hertreiter

Das Gehirn ist ein unfassbar schneller Richter. In der Neurologie geht man davon aus, dass es Urteile in Sekundenbruchteilen trifft. Zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch entscheidet es sogar schneller, als es Sätze in ihrer Bedeutung wahrnimmt: In einem Experiment, in dem menschliche Hirnströme gemessen wurden, fand man heraus, dass bei Erwachsenen ein grammatikalisch falscher Satz wie „Die Pizza ist zu heiß zum Fliegen“ dort minimal später für Ausschläge sorgt als ein Satz, der gegen das Werturteil einer Person verstößt. „Sex vor der Ehe muss bestraft werden“ zum Beispiel. Die schnelle Entscheidung zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch ist eine Art Reflex, der früher lebensrettend sein konnte, und der heute ständig aktiviert wird, wenn der Mensch durch Timelines scrollt. Grausige Kriegspartei, tolle Bluse, endlich sagt’s mal einer, schönes Tor, süßer Welpe, was für ein Depp.

Und obwohl auch die Gehirne von Journalistinnen und Journalisten ständig solche Instant-Urteile abfeuern, ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass ihre Meinung in einem Text in großen Zeitungen oder Nachrichtenportalen landet: Zeit. Nicht nur, weil der Meinungstext eine Auseinandersetzung mit den Argumenten der eigenen sowie der anderen Seite erfordert. Im Idealfall ist Zeit bereits in den vergangenen Jahren investiert worden.

Eine Politikreporterin, die seit Jahren über die SPD berichtet, wird Olaf Scholz‘ Entscheidungen rasch und im Kontext einzuordnen wissen, ein Fußballreporter, der den FC Bayern seit seiner Ausbildung begleitet, kann Transferentscheidungen unmittelbar einschätzen. Und, das ist die Kür, beide wissen, wen sie anrufen, um das Ganze mit exklusiven Einblicken oder Informationen zu veredeln. Ein erstklassiges journalistisches Meinungsstück geht also nicht ohne Expertise, Hintergrundwissen, Kontakte, Informanten.

Hervorragende Meinungstexte in Qualitätsmedien erfüllen zwei Kriterien: Sie sind glasklar in der Argumentation, und sie bilden nicht nur den Standpunkt des Verfassers ab. Im Gegenteil, sie berück­sichtigen die Gegenposition deutlich: Wer für die Kindergrundsicherung plädieren möchte, sollte einen Vorschlag machen, wie das Geld in allen Familien auch wirklich bei den Kindern landet. Wer gegen eine restriktivere Asylpolitik anschreiben will, muss organisatorische Fragen von Befürwortern beantworten. Und dann ist da noch ein drittes Kriterium, der Bonuspunkt: Hervorragende Meinungstexte sind so geschrieben, dass sie Gefühle beim Publikum auslösen. Formulierungen, die ins Herz zielen, Sprachbilder, die das Geschriebene lebendig werden lassen, Sätze, die man sich abspeichern möchte.

Dass Texte im Netz heute um Aufmerksamkeit konkurrieren, hat den Faktor Zeit für Recherchen noch wichtiger gemacht: Gerade weil Kommentatoren auf unterschiedlichen Nachrichtenportalen, aber auch Linkedin, X, Instagram und Tiktok gegeneinander antreten, ist es publizistisch wertlos, in der Zeitung rasch den Daumen zu heben oder zu senken. Was Leserinnen und Leser aber buchstäblich wertschätzen, wofür sie auch zu bezahlen bereit sind, sind exzellente, kenntnisreiche, überraschend argumentierte und präzise formulierte Stücke. Nicht obwohl, sondern gerade weil im Digitalen ein aufgewühltes Meer an Meinungsäußerungen wogt, schätzen Leserinnen und Leser Essays, Kommentare, Leitartikel nach hohen Standards – als Leuchtturm sozusagen.

Anders als beim Facebook- oder Stammtischkommentar geht es in diesen Texten darum, zu überraschen, unterhalten und informieren. Sie geben sich nicht damit zufrieden, Leser rasch zum Nicken und Kopfschütteln zu bringen, auf den schnellen Gehirnreiz zu setzen, auf Empörung oder Likes. Sie fordern ihre Leserinnen und Leser heraus, überraschen sie, regen sie auf, setzen Denk­prozesse in Gang. Statt Selbstbestätigung zu servieren geht es darum, das Selbst infrage zu stellen. Dazu muss man beide Seiten kennen, dann, aber nur dann, liegt darin die Chance, dass Leser im Zweifel auch die andere Meinung verstehen, selbst wenn man sie nicht annehmen wird.

Ein gut recherchierter, fundierter Meinungstext hat damit das Potenzial, nicht nur das Trennende, sondern auch das Verbindende sichtbar zu machen. Er kann Pläne, Protest oder Streit anzetteln, vor allem aber: Gespräche. Und damit kann er das Gegengift sein gegen die heißgelaufene Instant-Meinungsmaschinerie im Netz.

Laura Hertreiter

Ressortleiterin Kultur und Medien der Süddeutschen Zeitung.