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Geschichten des Gelingens

Konstruktiver Journalismus erschöpft sich nicht im Aufdecken von Missständen, er stiftet auch Hoffnung. Von Impfstoffen, Skipisten auf Kraftwerken und dem Wunder von Somaliland.

Von Judith Wittwer

Die Zeitung zu lesen und sich durch die Nachrichtenseiten im Internet zu klicken, bereitete schon mehr Freude. Die Welt steht in Flammen. Unentwegt berichten die Medien über brennende Wälder und Flüsse, die über die Ufer treten und Unheil anrichten. Sie informieren über tödliche Viren und Kriege. Und sie decken Missstände auf – in der Politik, bei mächtigen Unternehmen, im Fußballverein um die Ecke. Katastrophen, Krisen, Konflikte überall.

„Probleme schreien, Lösungen flüstern“, sagt der Publizist David Bornstein, und der Mitbegründer des „Solution Journalism“ hat recht. Düstere Nachrich­ten dominieren die Berichterstattung in den Medien. Die Probleme lärmen und werden gehört. Die Geschichten des Gelingens kommen zu kurz.

Grund dafür ist in erster Linie das journalistische Selbstverständnis. Die klassischen Medien haben in einer liberalen Demokratie eine Wächter­funktion. Die Journalisten schauen den Einflussrei­chen und Mächtigen auf die Finger, sie recherchie­ren und kritisieren das Handeln der Verantwortungsträger. Ungefilterte Fakten und das Streben nach Wahrheit sind die Basis ihrer Arbeit. Das unterscheidet den Journalismus von emotionalen Debat­ten in Biergärten oder in den digitalen Netzwerken. Das macht ihn so wichtig für den öffentlichen Diskurs, die Meinungsbildung und die Demokratie.

"Die Seuche weckt bei den Menschen einen nie dagewesenen Durst nach seriöser Aufklärung. In der Krise zeigt sich, wie unentbehrlich glaubwürdiger Journalismus ist."

Die Probleme werden in einer vernetzten Welt auch nicht kleiner. Der Leser erfährt heute praktisch im Live-Modus, wenn die Erde in Papua-Neu­guinea nach starken Regenfällen ins Rutschen kommt. Er hört von Tierquälereien in Rumänien, liest Reportagen über den auftauenden Permafrost in Sibirien und weiß inzwischen auch, wie besorgnis­erregend schnell sich ein Virus global ausbreiten kann. Fast nichts bleibt ihm verborgen, immer mehr Missstände kommen ans Licht. Das ist gut so.  

Je unübersichtlicher und unsicherer die Zeiten, desto größer auch das Bedürfnis nach Informa­tion und Einordnung. Die Fake News des unfit to be President Donald Trump verlangten nach einer lautstarken Korrektur durch unabhängige Medien. Die Seuche weckt bei den Menschen einen nie dagewesenen Durst nach seriöser Aufklärung. In der Krise zeigt sich, wie unentbehrlich glaubwürdiger Journalismus ist. Die Zeitung lebt! Nimmt man Print und Digital zusammen, hatte auch die Süddeutsche Zeitung noch nie so viele Abonnenten wie heute; Tendenz weiter steigend.

Doch die Leser wollen nicht nur informiert sein und sich gegen mögliche Schäden wappnen. Umfragen belegen, dass zu viele schlechte Nachrichten auch abstumpfen, ermüden, abstoßen. Ein pausenloser Strom an Negativem macht tendenziell ängstlich. Er lähmt.

Verantwortungsvoller Journalismus erschöpft sich deshalb nicht darin, die vielen Probleme dieser Welt zu benennen, die Fehler anzuprangern und die Missstände zu verwalten. Konstruktiver Journalismus entfaltet auch selbst eine gestalterische Wirkung – indem er, handwerklich sauber und ohne PR für eine gute Sache zu machen, über innovative Ideen berichtet, mit positiven Beispielen Hoffnung stiftet und inspiriert: Die Geschichte über die Biotech-Erfinder Özlem Türeci und Uğur Şahin, die im Wald hinter Marburg Milliarden von Impfdosen gegen Covid-19 produzieren und damit einen elementaren Beitrag leisten, dass sich die Welt aus dem Klammergriff der Pandemie befreit. Die Reportage aus Dänemark, wo der Journalist der Süddeutschen Zeitung Ingenieure in einem topmodernen Kraftwerk besucht, die mit Hochdruck an Lösungen für eine klimafreundliche Zukunft arbeiten. Oder das wundervolle Lehr­stück aus dem wenig bekannten Somaliland, dem jungen Staat in Ostafrika. In lediglich drei Jahrzehnten ist er zu einem der sichersten und friedlichsten Länder auf dem Kontinent geworden – ganz ohne Entwicklungshilfe.

Probleme schreien, Lösungen flüstern. Doch wenn man genau hinhört, erfährt man Sinnstiftendes, als Journalist und als Leser. 

Judith Wittwer

Seit Sommer 2020 führt sie gemein­sam mit Wolfgang Krach die Redaktion der Süddeutschen Zeitung. Zuvor war sie Chefredak­teurin des Tages-Anzeigers in Zürich.