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Was im Diskurs Gehör verdient

Welche Themen es in die Zeitung schaffen – wie und warum.

Von Jürgen Kaube

Die Gesellschaft, in der wir leben, kennt keine wichtigsten Themen. Der russische Angriff auf die Ukraine ist wichtig, was gegen Bluthochdruck hilft auch, die Schuldenbremse und die Erderwärmung ebenfalls, von der Künstlichen Intelligenz und der Kinderarmut ganz zu schweigen. Manche der wichtigen Themen sind untereinander verbunden, aber zwischen dem Ende der Ampel-Koalition, der Antibiotikaknappheit und den Konflikten in Nahost sind Zusammenhänge nicht zu sehen.

Keine Diskussion könnte sich darum darauf einigen, was von all dem wichtiger ist als das andere. Es gehört zu den Leistungen der Massenmedien, solche Diskussionen zu erübrigen. Nach ihren eigenen Kriterien legen sie sich temporär auf Themen fest, zu denen sie Beiträge veröffentlichen. Am Ende sind dann sogar die Champions League, Spitzenköche oder Vorgänge im englischen Königshaus wichtig.

Zu den Kriterien, nach denen in den Redaktionen ausgewählt wird, gehören Neuheit, Konflikthaltigkeit, Empörungsgehalt, lokale Bedeutung, weltweite Bedeutung und Personalisierbarkeit, Prominenz. Wenn ein Flugzeug abstürzt, ist das eine Meldung. Wenn am selben Tag 10.000 Flugzeuge sicher landen, ist es keine. Wenn in dem Flugzeug ein Filmstar saß oder jemand aus Deutschland, wird die Meldung noch dringlicher. Wenn das Flugzeug in Russland abstürzt und die Gründe unklar sind, gilt dasselbe. 

In der Gesellschaft sind solche Kriterien bekannt. Wer die Aufmerksamkeit der Medien gewinnen will, muss ihnen etwas Neues bieten, einen Konflikt, einen Schaden, etwas Empörendes oder etwas besonders Schönes. Alle Künstler und alle Politiker wissen das. Die Aktionen der „Letzten Generation“ sind ein anderes Beispiel: Suppe auf van Gogh – und das Fernsehen kommt. Bei Suppe auf Lotte Laserstein hätte vielleicht das französische Fernsehen schon nicht mehr gesendet. Allerdings wird dort, wo Berichterstattung stattfindet, dann mehr über Selbstkleber berichtet als über den Klimawandel.

Das wiederum kann als Thema in den Kommentaren der Zeitungen aufgegriffen werden. Zeitung ist dort, wo sie gut ist, nicht einfach Berichterstattung, sondern darüber hinaus Reflexion, Nachdenklichkeit. Es gibt nicht nur relevante Themen, es gibt auch relevante Gedanken. Ein Kriterium dafür, worüber nachgedacht wird, sind Widersprüche und Paradoxien. In unserem Beispiel: Die soziale Bewegung will Entscheidungen zur Bekämpfung des Klimawandels herbeiführen, ihr Effekt ist aber die Wut der Autofahrer auf die Grünen. Die Differenz erklärter Absichten zu bewirkten Folgen, die Heuchelei, die offenkundigen Irrtümer, die unfreiwillige Komik von vielem, die unvermutete Bedeutung von etwas – all das begünstigt das Vorkommen in Kommentaren.

Das wusste ich gar nicht, so habe ich das noch gar nicht gesehen, endlich sagt es mal einer. Das sind die drei typischen Reaktionen, wenn jemandem gefällt, was in der Zeitung vorkommt. Journalisten, die in diesem Sinne der Aufklärung verpflichtet sind, müssen also ganz unterschiedliche Qualitäten haben. Sie benötigen ein Gespür für das, was nicht gewusst wird. Sie sollten die Fähigkeit zu ungewohnten Sichtweisen haben. Sie sollten dem eine Stimme geben wollen, was im gesellschaftlichen Diskurs Gehör verdient.

Dabei spielt es kaum eine Rolle, worüber sie schreiben. Denn alles ist interessant, über alles gibt es falsche Ansichten, alles Wissen ist nützlich. Kurz: An alles lassen sich Fragen herantragen, die den Verstand der Leser erfrischen. Nicht mehr, nicht weniger will die Zeitung.

Herausgeber der F.A.Z. und F.A.S., Träger des Ludwig-Börne-Preises 2015. Autor mehrerer Bücher u.a. „Die gespaltene Gesellschaft“ (2022) mit dem Soziologen André Kieserling