Könnte doch alles wahr sein
Politisch relevante Fakten zwischen Desinformation und Fake News.
Der Tag, an dem die Wahrheit verhandelbar wurde, war der 21. Januar 2017. Donald Trump war einige Stunden vorher in das Amt des amerikanischen Präsidenten eingeführt worden, und auf die Frage, wie viele Menschen dieser Zeremonie beigewohnt hatten, gab es mehrere Antworten. Mehr als bei Barack Obama vier Jahre zuvor, behauptete Trumps Sprecher fürs Weiße Haus – weniger als damals, rechneten die Faktenchecker sofort nach. Und Kellyanne Conway, Trumps Beraterin, prägte in jenen Januartagen den berühmt geworden Satz, man habe eben „alternative Fakten“ präsentiert. Keine Lügen, bloß eine andere Wahrheit.
Der Rest ist Geschichte, die erste Präsidentschaft Trumps bis zur Legende von der gestohlenen Wahl war geprägt von Falschbehauptungen, von „Fake News“, die plötzlich keine Lügen mehr sein sollten, sondern einfach eine andere Sicht auf die Welt. Zusammen mit den in Lügenfabriken erstellten Falschinformationen aus Russland, die längst zielgenau Wahlen beeinflussen und Stimmungen steuern können, haben sie unser aller Verhältnis zur Wahrheit verändert. Und nicht nur, aber auch für Journalisten stellt sich seither mit vollkommen neuer Dringlichkeit die Frage: Wie können wir unsere Arbeit noch machen in einer Welt, in der Fakten keine Fakten mehr sind, in der sich jeder Mensch seine ihm passende Wahrheit aussuchen kann?
Es gehört zum Selbstverständnis der unabhängigen Medien, Sachverhalte möglichst genau zu recherchieren, alle Argumente zu hören und umfassend darzustellen. Die Nachricht soll von der Meinung getrennt sein, das mag nicht immer überall gelingen, aber das Ziel ist eindeutig: erst berichten, dann bemeinen. Außerhalb der etablierten Medienhäuser gelten aber längst völlig andere Regeln, jeder Hobbyjournalist und eigentlich jeder Mensch, der ein Smartphone besitzt, kann sich in den sozialen Medien stets die Dinge suchen, die ins eigene Weltbild passen oder Realitätsausschnitte mit dem passenden Spin versehen. Und wenn für die Bestätigung des Weltbilds eine Lüge nötig ist – gerne auch das. Wie kann in so einem Umfeld der klassische Journalismus die Menschen noch erreichen?
Klar ist: Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht und sehr viele Menschen wollen von den Recherchen der großen Medienhäuser gar nicht mehr erreicht werden. Die Diskursräume sind enger geworden, es ist immer schwieriger geworden, eine gemeinsame Grundlage für gesellschaftliche Debatten zu finden. Wenn sich eine Öffentlichkeit nicht einmal mehr darauf einigen kann, wie viele Menschen bei einer Veranstaltung anwesend waren – wie soll das dann möglich sein bei so komplexen Fragen wie der Gefährlichkeit des Corona-Virus oder den Ursachen für den Klimawandel? Wie soll eine politische Debatte über den richtigen Umgang mit dem großen Thema Migration funktionieren, wenn etwa in den USA der Präsidentschaftskandidat die Lüge verbreitet, Flüchtlinge würden Haustiere essen?
Für mich ist das trotz allem erst recht ein Grund für alle Journalisten weiterzumachen. Weiter zu recherchieren, weiter das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, weiter unterschiedliche Meinungen abzubilden. Nicht mehr nur in der Zeitung, dem Fernsehsender, der Website, sondern auch auf X, Facebook, Instagram und Tiktok, also auf dem Jahrmarkt der Halbwahrheiten. Wenn wir Journalisten die Suche nach der Wahrheit aufgeben, geben wir die Wahrheit auf – und dann könnte eigentlich alles wahr sein.

Seit April 2021 Ressortleiterin Politik der SZ, davor Lehramtsstudium und Deutsche Journalistenschule in München. Seit 2010 bei der SZ