Man tritt der sächsischen Linken-Politikerin Caren Lay hoffentlich nicht zu nahe, wenn man feststellt, dass ihr Name bis vor kurzem höchstens politischen Insidern ein Begriff war. Wie das halt so ist bei einer Fachpolitikerin im Bundestag, seit vielen Jahren kümmert sich Lay um das Thema Wohnen. Zu einer gewissen Prominenz ist sie dann – ziemlich rasant – auf eine Art gekommen, die man bei einer 51-jährigen Diplom-Soziologin wohl für überraschend halten darf: als rappende Abgeordnete auf Tiktok. Ihre feministische Coverversion des Shirin-David-Songs „Bauch Beine Po“ wurde 1,7 Millionen Mal gesehen. „Du hast nen Body? Dann ist es deiner“, schmettert Lay im Leder-Mini-Rock. „Ihn kommentieren? Darf einfach keiner.“
Relevanz im digitalen Zeitalter leitet sich nicht mehr allein von politischer Macht ab. Aufmerksamkeit ist zu einem sehr knappen, hart umkämpften Gut geworden – und nur wer diesen Kampf im Internet gewinnt, kann gerade junge Wählerinnen und Wähler erreichen. Ob nun die wohnpolitischen Forderungen, die Caren Lay in ihren anderen Tiktok-Videos erhebt („Macht die Miethaie zu Fischstäbchen“), wirklich die Massen mobilisieren, darf zwar bezweifelt werden. Aber klar ist: Bekanntheit und Beliebtheit im Netz öffnen Politikern wenigstens eine Tür zur Jugend. Und helfen auf jeden Fall bei der persönlichen Markenbildung.
Selbst ein bisschen Polarisierung muss unterm Strich nicht schaden. Dieses Prinzip reizt niemand konsequenter aus als der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Markus Söder. Es gibt keinen anderen Spitzenpolitiker, der Alltagsbanalitäten und Reiseerlebnisse so ungeniert online zelebriert wie Söder. Essen („Söder Kebab“), Tiere (Gipfeltreffen mit Kamel Valentino in Kairo), Musik (ABBA-Hüftgymnastik in Stockholm). Söder ist auf allen Kanälen unterwegs, in der Politik- und Medienblase auf X (mehr als 500. 000 Follower), bei den Silver Surfern auf Facebook (320 .000), beim Nachwuchs auf Tiktok (224. 000) oder bei den Freunden gepflegter Optik auf Instagram (652. 000).
Söders offensive Spaßpolitik gefällt natürlich nicht jedem, was übrigens auch für Caren Lays Tanz-Einlagen gilt. Als Söder in der Adventszeit einen Weihnachtspullover auftrug, den statt Schneemann oder Rentier sein eigener Charakterkopf zierte, fasste der Kölner Express die Debattenlage im Netz so zusammen: „Markus Söder: Video sorgt für Wut“. Zitiert wurde unter anderem ein erboster X-User: „Peinlicher geht es kaum.“ Mag sein, aber es geht natürlich auch kaum erfolgreicher. Wieder mal drehte sich, wenn nicht alles, so doch ziemlich viel um Söder. Anerkennend formuliert: Söder gehört zu den wenigen bekannten Politikern der Mitte, die im digitalen Raum der AfD etwas entgegenzusetzen haben.
Die Rechtspopulisten haben in den vergangenen Jahren enorm viel in ihre Social-Media-Kommunikation investiert und ein regelrechtes Fan-Netzwerk herangezogen. Sie besitzen dabei den großen Vorteil, dass sie in einer hemmungslosen Art mit Emotion und Provokation arbeiten können, die seriöse politische Kräfte lieber vermeiden. Es gibt inzwischen viele Politikerinnen und Politiker aller Farben, die ihre Social-Media-Profile für Verlautbarungen nutzen: Manchmal ist ein Instagram-Video heute das, was früher eine Pressemitteilung war. Aber das allein wird der AfD ihre gefühlte Netz-Dominanz kaum streitig machen. Als Robert Habeck nach dem Bruch der Ampel nach sechs Jahren Abstinenz auf „X“ zurückkehrte, schrieb er: „Orte wie diesen den Schreihälsen und Populisten zu überlassen, ist leicht. Aber es sich leicht zu machen, kann nicht die Lösung sein.“
Während Habeck sein nachdenkliches Image pflegt und vor allem auf persönliche Videostatements vertraut, bemüht sich Markus Söder in den sozialen Medien um ein „Vollprogramm“, wie das seine Vertrauten nennen: Information und Unterhaltung sowie die praktische Zwischenform des Infotainments. Letztere liegt etwa vor, wenn Söder bei einem dienstlichen Termin (Medienpreisverleihung) eine glücklich-glamouröse Begegnung hat (Heidi Klum). Die politischen Beiträge sind in der Überzahl, und Söders Hoffnung ist es, dass User, die von ihrer Faszination für geschmacklose Weihnachtspullover angelockt werden, etwa bei der Frohbotschaft hängenbleiben, dass E-Autos in Bayern nun drei Stunden kostenlos parken dürfen.
Am markanten Beispiel Söder lässt sich plastisch das Dilemma veranschaulichen, das auf fast jeden Politiker wartet, der sich als Influencer in eigener Sache versucht und in den Wettstreit um Online-Aufmerksamkeit begibt. Wer allzu offensiv auch spaßpolitische Bedürfnisse bedient, muss damit leben, dass er schlimmstenfalls so sehr an Ernsthaftigkeit einbüßt, wie er an Unterhaltungswert zulegt. Bei Söder ist das eine Frage, die ihn schon seine ganze Karriere lang begleitet: Wann ist es zu viel der Gaudi? Es gibt in den sozialen Medien viel zu gewinnen für Politiker – die Nachwuchs-Rapperin Caren Lay hat das erleben dürfen. Es gibt aber auch einiges zu verlieren.

Chefreporter der SZ und seit 2007 bei der Zeitung: erst Volontär, dann Korrespondent für Franken, Korrespondent für Baden-Württemberg und politischer Reporter für Seite Drei und Buch Zwei