Vor ein paar Monaten trat auf einer Preisverleihung, bei der wir mit dem F.A.S.-Feuilleton für einen Beitrag über die deutsche Heizungsdebatte nominiert waren, ein Kollege von der Konkurrenz an mich heran und sagte: „Na, Sie haben es im Feuilleton ja sicher auch nicht gerade leicht in diesen digitalen Zeiten.“ Er sagte das ganz freundlich, vom Tonfall aber auch ein wenig mitleidig, als seien wir „nur“ das Feuilleton und andere Ressorts, die seiner Ansicht nach mehr Nachrichten produzierten, wie vielleicht die Politik oder die Wirtschaft, per se relevanter. Als hätten wir, wo es um Klicks und digitale Abos geht – die für alle Qualitätsmedien immer bedeutender werden –, mit Kulturthemen selbstverständlich das Nachsehen. Mit den Ratgeber-Finanztipps oder jenen aus den Bereichen Gesundheit und Ernährung, so nahm er an, könnten wir ohnehin nicht mithalten.
Ich sehe das nicht so. Im Gegenteil. Das Feuilleton ist in den vergangenen Jahren, in denen die Debatten auch durch die sozialen Medien hitziger geworden sind, die Streitkultur unversöhnlicher und die Polarisierung der Gesellschaft stärker, noch wichtiger geworden: als Ort der Reflexion, des Nachdenkens, der Debatte selbst, aber auch des Innehaltens – und, wenn alles gut läuft, auch des Humors. Denn die Kunst und Architektur, die Literatur, das Kino, die Musik, die Medien oder digitalen Welten, die wir im Feuilleton zum Thema machen oder zum Gegenstand von Kritik, verhandeln ja immer auch die Gegenwart, in der sie entstehen. Sie tun dies aus eigenwilligen, oft unerwarteten Perspektiven, im Entwurf von Analysen, Möglichkeitswelten oder Zukunftsvisionen, die es erlauben, einen anderen Blick auf das einzunehmen, was wir sehen; die Dinge also anders zu betrachten, Distanz zu schaffen, nicht zuletzt auch zu uns selbst. Und sie rücken nicht nur die Frage was, sondern vor allem auch wie etwas dargestellt wird, in den Vordergrund.
Zugleich ist das Feuilleton Ort der Debatte selbst, indem hier widerstreitende Stimmen zu Wort kommen, gegensätzliche Argumente ausgeführt werden, politische Ereignisse eine intellektuelle oder historische Einordnung finden. Dass es ein Bedürfnis nach einer solchen Einordnung gibt, nach Orientierung durch Analyse und Reflexion, zeigen nicht zuletzt die digital messbaren Zugriffe auf solche Artikel. Sie haben auch nicht zuletzt damit zu tun, dass viele der großen gesellschaftlichen Debatten der vergangenen Jahre Kulturdebatten waren. Das gilt zum Beispiel für die MeToo-Bewegung. Sie hatte ihren Ausgangspunkt in den Vorwürfen jahrzehntelanger sexueller Belästigung, Nötigung und Vergewaltigung gegenüber Dutzenden Frauen aus der Filmindustrie gegen den amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein, die die „New York Times“ und der „New Yorker“ öffentlich machten. Und die bald auch hier ihr Echo fanden – zuletzt in den „Row Zero“-Vorwürfen gegen den Sänger der Band Rammstein. Nicht nur die Filmwelt, auch die Musikindustrie muss seither ihre Produktionsbedingungen, Umgangsformen und Machtstrukturen befragen. Die investigativen Recherchen der Feuilletons spielten in dieser Umwälzung eine grundlegende Rolle und wurden zu weltweiten Nachrichten.
Bei dem Beitrag über die Heizungsdebatte und den Wirtschaftsminister Robert Habeck, für den das F.A.S.-Feuilleton bei der Preisverleihung nominiert war, handelte es sich um eine Medienkritik, die zeigte, wie aus einer Energiefrage medial ein selbstzerstörerischer Kulturkampf inszeniert worden war. Für uns genauso relevant wie das Buch der amerikanischen Historikerin und Friedenspreisträgerin Anne Applebaum über die Netzwerke der Autokraten; eine Reportage durch die Jugendclubs in Ostdeutschland vor den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen; die Frage, warum der Anti-Mafia-Kämpfer Roberto Saviano nicht mit einer offiziellen italienischen Delegation zur Buchmesse in Frankfurt reisen sollte; Demi Moore in dem Film „The Substance“; eine Reise an den Schauplatz von Thomas Manns „Der Zauberberg“ und zu den Festspielen in Bayreuth; die Sprache der südkoreanischen Literaturnobelpreisträgerin Han Kang; die umstrittene Nan-Goldin-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie; der architektonische Immobilienwahnsinn am Kudamm in Berlin oder die Frage, warum lauter prominente Menschen nicht aufhörten, der breiten Öffentlichkeit in Deutschland mitzuteilen, dass sie angeblich ihre Meinung nicht mehr sagen dürften (und den Widerspruch nicht bemerkten).
Denn das alles ist – das ist ja das Tolle – Feuilleton.

Seit 2020 ist sie Feuilletonchefin der F.A.S. Startete 2005 als freie Autorin in der Feuilletonredaktion der F.A.S. in Berlin. Von 2015 bis 2020 verantwortete sie dort das Literaturressort.