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Gespaltene Gesellschaft?

Warum wir populären Phrasen nicht trauen sollten.

Von Jürgen Kaube

Keine Woche, in der nicht in den Massenmedien, in Talkshows und Zeitungsartikeln, aber auch in sozialwissenschaftlichen Beiträgen behauptet wird, es drohe eine Spaltung der Gesellschaft oder sie sei längst gespalten. Das Meinungsforschungsinstitut Ipsos legt eine Umfrage vor, der zufolge auch fast zwei Drittel der deutschen Bevölkerung die Gesellschaft für „zerrüttet“ halten, was allerdings noch hinter den Zahlen aus Südafrika, Brasilien, Ungarn und den Vereinigten Staaten zurückbleibt. Am wenigsten gespalten empfinden danach Südkoreaner, Italiener, Japaner und Kanadier ihr Gemeinwesen. Wer demgegenüber eine Polarisierung der Gesellschaft in Abrede stellt, befindet sich in einer aussichtsreichen Minderheitenposition. In Deutschland sind die entsprechenden Werte seit fünf Jahren stabil, zugleich befinden „nur“ 47 Prozent aller deutschen Befragten, das Land sei im Niedergang, der viertbeste Wert unter 25 Nationen. Gespalten, aber ganz ok – der Demos der Demoskopie ist ein eigen­artiges Wesen, vielleicht hat es mit den Fragetechniken zu tun.

Was soll es nun heißen, die Gesellschaft sei gespal­ten? Oft ist damit nur grundlegender Dissens in ausgewählten Fragen bezeichnet: Für oder gegen Atomkraft, Flüchtlingsaufnahme, Ukraine­bewaf­­f­nung, Coronaimpfung, Tempolimit und so weiter. Dieser Dissens äußert sich in offenen Briefen, Streit in Talkshows, Leitartikeln, aber auch in oft ungehobelten Mitteilungen auf Plattformen im In­ter­net. Ab und an kommen Demonstrationen hinzu.

Solche Konflikte sind normal. Sie zerreißen die Gesellschaft nicht, sie machen sie aus. Spaltend sind sie schon darum nicht, weil nicht jeder in ihnen engagiert ist, weil es oft nur Meinungskonflikte, aber nicht Handlungskonflikte sind und weil sich in ihnen nicht immer dieselben Leute gegenüberstehen. Die Befürworter von Atomkraft sind nicht automatisch auch Impfgegner und Putinfreunde. Wir leben, mit anderen Worten, nicht in einer Situation des geistigen oder tatsächlichen Bür­ger­kriegs, in der es einer Unterscheidung (protestantisch/katholisch, links/rechts, arm/reich) gelingen könnte, die Stellungnahmen der Bürger zu allen umstrittenen Themen zu bestimmen.

Eine andere Spaltungsdiagnose macht sich an zunehmenden Ungleichheiten in der Gesellschaft fest. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich nehmen zu, der Osten fühlt sich vom Westen übervorteilt, der „globale Süden“ von den europäischen und nordamerikanischen Zentren der Weltwirtschaft. Manche Beobachter sehen eine Wiederkehr der Klassengesellschaft.

Allerdings ist einstweilen kein Klassenkampf zu sehen und oft nicht einmal ein Klassenbewusstsein. Die Mittelschicht bildet nach wie vor den Schwerpunkt der Gesellschaft, die Arbeiter streben nicht nach einer Revolution, sondern nach einem Eigenheim und sozialer Absicherung. Man muss also viele krasse Ungleichheiten und schwer erträgliche Ungerechtigkeiten nicht leugnen, um gegenüber einer Spaltungsdiagnose skeptisch zu bleiben.

Weshalb hält sich die Phrase von der gesellschaftlichen Spaltung dennoch? Zwei Antworten. Die erste lautet: Wahlkämpfe. In Wahlkämpfen ist es seit jeher üblich, der anderen Seite ein Maximum an Gefährlichkeit zuzuschreiben. Die anderen sind dann die Spalter. Man wertet den eigenen Konflikt außerdem auf, wenn man ihn als Konflikt ums Ganze darstellt. Das führt zur zweiten Antwort: Massenmedien. Es ist in Talkshows, aber auch in Leitartikeln einfach reizvoll, die Bedeutung der jeweils diskutierten Kontroverse zu erhöhen, indem man ihr die Eigenschaft attestiert, die Gesellschaft zu spalten. Übertreibung verkauft sich. Alarmismus – der Ruf zu den Waffen, à l’arme – erhöht die Aufmerksamkeit.

Stumpft sie allerdings langfristig auch ab. Denn er führt nicht zu sinnvollen Beschreibungen der Gesellschaft, in der wir leben. Noch einmal: Es ist eine zumutungsreiche, konfliktreiche, katastrophenreiche Gesellschaft. Doch ihre Bindungskräfte sind viel höher, als es die Diagnose der unmittelbar bevorstehenden Spaltung zugibt.

Jürgen Kaube

Herausgeber der F.A.Z. und F.A.S., Träger des Ludwig-Börne-Preises 2015. Autor mehrerer Bücher u.a. aktuell „Die gespaltene Gesellschaft“ (2022) mit dem Soziologen André Kieserling.