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Für die bessere Geschichte

Wie die Süddeutsche Zeitung digitales Erzählen entwickelt.

Von Wolfgang Jaschensky

Da ist zum Beispiel dieses großartige Porträt der Schwimmerin Gina Böttcher, die als Kind fast ertrunken und nun für Deutschland zu den Paralympics gefahren ist. Thorsten Schmitz hat den Kampf ihres Lebens für das Buch Zwei der Süddeutschen Zeitung aufgeschrieben. Oder diese auf­wendige Analyse, die nach der Flutkatastrophe im Juli den Zusammenhang zwischen extremen Wetterereignissen und dem Klimawandel beleuchtet. Und da ist die Recherche über den qualvollen Tod, den Schweine in deutschen Schlacht­höfen sterben. Kristiana Ludwig und Michael Bauchmüller haben herausgefunden, warum „Die Qualmaschine“ für die Tiere solches Leid bedeutet.

Inhaltlich haben diese drei Geschichten nichts gemein, aber sie stehen exemplarisch dafür, wie wir bei der Süddeutschen Zeitung unseren digitalen Journalismus gerade neu erfinden. Alle drei Geschichten leben natürlich, so wie auch in der gedruckten Zeitung, von ihrer fundierten Recherche und von der Qualität der Texte. Was macht dann eigentlich die gute digitale Geschichte aus?

Lange Zeit haben wir Journalisten so gearbeitet, als mache es keinen Unterschied, ob ein Artikel auf Papier oder auf Bildschirmen erscheint. Klar, Onlinejournalismus war schnell und 24/7, orientierte sich an Metriken und spielte in und mit den sozialen Netzwerken. Doch der Kern der Arbeit der meisten Redakteure, die Geschichte, sei es in Form einer Nachricht oder einer Reportage, eines Interviews oder eines Essays, blieb lange Zeit erstaunlich unberührt von der digitalen Revolution. Redakteure schreiben einen Text, dazu kommt noch ein Foto, fertig – ganz genauso, wie Journalisten das aus der gedruckten Zeitung seit Jahrzehnten kennen.

Dabei verändert der Bildschirm als Medium die Möglich­keiten für unsere Erzählungen grundlegend: Die Schwim­merin hat unser Fotograf Friedrich Bungert mit seiner Kamera begleitet, seine Bilder tragen die Geschichte genauso wie die Worte des Reporters. Die Klima-Recherche wird erst durch die Arbeit von Datenjournalistinnen, Entwicklern, Designerinnen und Infografikern zu dem, was sie ist: Eine imposante Deutschlandreise zu einem besseren Verständnis des Klimawandels und seiner Auswirkungen auf unser Land. Und das Leiden der Schweine wird auf besondere Weise greifbar, wenn der Nutzer mit seinem Finger die Schweine in die Qualmaschine scrollt und Videoaufnahmen der Tierschützer die Folgen zeigen.

Was diese Geschichten gemeinsam haben: sie begreifen Bilder und Grafiken, Videos und Animationen als Teil der Erzählung. Natürlich sind Bilder und Grafiken auch elementarer Bestandteil der gedruckten Zeitung, aber die visuellen Darstellungsformen stehen buchstäblich neben dem Text, begleiten ihn, lenken die Aufmerksamkeit auf ­ihn, aber können anders als auf Bildschirmen kaum zu einem Teil der Erzählung werden. Das können Sie übrigens auch an diesem Text erkennen:

Die drei Beispiele illustrieren diesen Artikel, zur Geschichte gehören sie nicht. Auf Bildschirmen können wir als Autoren, als Geschichtenerzähler, alles nutzen, was technisch möglich ist, um eine Geschichte zu erzählen. Bilder können sich bewegen, Menschen sprechen, Musik kann erklingen. Und, das ist der entscheidende Punkt: alles wird, gesteuert durch die Finger des Lesers, zu einer großen Erzählung verwoben.

Diese Erkenntnis, so banal sie vielleicht klingt, verändert grundsätzlich, wie wir heute über unseren digitalen Journalismus denken – und auch wie wir ihn planen und umsetzen. Bildredakteure und Infografikerinnen, Designer und Ent­wicklerinnen, Journalisten und Layouterinnen arbeiten nun gemeinsam im Team mit Redakteurinnen aus den Fachressorts, um aus deren Recherchen die besten Geschichten zu erzählen.

Vor zwei, drei Jahren waren solche Produktionen noch die Ausnahme, Exoten im Repertoire des digitalen SZ-Journalismus. Heute entstehen sie Tag für Tag, digital wird normal.

Damit das möglich ist, arbeiten wir in der Entwicklungsredaktion nicht nur an Geschichten, sondern auch an einer Software. Seit fünf Jahren erweitern wir mit unserem Storytelling-Tool die Möglichkeiten für unseren Journalismus, und die digitale Produktion wird nicht nur besser, sondern einfacher und schneller. Geschichten, die vor zwei Jahren noch eine Produktionszeit von mehreren Wochen gehabt hätten, entstehen heute innerhalb von Stunden.

In den zurückliegenden Monaten haben wir weit mehr als 100 Redakteure in unserer Software geschult. Einer von ihnen ist Thorsten Schmitz, der Autor des Porträts der Schwimmerin. Lange Jahre war Schmitz SZ-Korrespondent in Israel, dann im Berliner Büro der SZ. Heute ist er einer der versiertesten Storyteller im Haus.

Für sein Porträt der Schwimmerin ist er übrigens gerade für den Deutschen Reporterpreis nominiert. Noch so eine Gemeinsamkeit mit den beiden anderen Geschichten aus diesem Text. Auch sie können in ihren Kategorien auf eine Auszeichnung beim Reporterpreis hoffen.

Wolfgang Jaschensky

Leitet gemeinsam mit den Art Directors Astrid Müller und Christian Tönsmann den Visual Desk der SZ. Zuvor verantwortete er die Entwicklungs­redaktion und baute die Teams Audio, Video, Datenjournalismus und Storytelling auf und aus.